Bild: Philip Behrendt

„Okay, und nun zu uns beiden. Ich weiß natürlich, dass du nicht der Weihnachtsmann bist, sondern irgendein Versager, der sein Studium nicht auf die Reihe kriegt. Entweder du schiebst mir sofort 50 Euro durch deinen falschen Bart oder ich fange an zu brüllen und sage, du hättest mich befummelt.“ (S. 12)

War das jetzt wirklich der Tiefpunkt? Heiligabend kurz vor Feierabend: Holger saß als Weihnachtsmann verkleidet vor einem Bochumer Supermarkt und nahm die Wünsche der Kinder entgegen, als ihn der kleine Dennis frech erpresste. Ein Ausweg? Eher nicht in Sicht, immerhin hatte sich der Junge direkt auf seinen Schoß geschwungen. Das sah nicht gut für Holger aus.

Um fünfzig Euro erleichtert, machte er sich auf den Heimweg durch das Bermudadreieck. Aus den Kneipen hörte er Weihnachtsmusik der übelsten Sorte: Wham!, Band Aid, solche Sachen. Vielleicht ging es ihm ja doch nicht so schlecht. Obwohl seine Freundin ihn verlassen hatte, fast sein komplettes letztes Geld nun in der Hosentasche eines kriminellen Zwergs war und er hier alleine nüchtern durch das Sauwetter Bochums lief. Alles eine Frage des Blickwinkels, vermutlich.

Ein paar Schritte weiter entdeckte er am Engelbertbrunnen plötzlich einen ziemlich heruntergekommenen Weihnachtsmannkollegen, der bewaffnet mit seiner Gitarre Countrysongs zum Besten gab. Ein etwas einseitiges Gespräch später – Holger fehlten irgendwie die Worte – saßen die beiden zusammen beim Glühwein in der nächsten Kneipe. Zuhause wartete ja sowieso niemand auf ihn.

Als sich sein Gegenüber nach zwei schnellen Gläsern verabschiedete – er habe noch viel zu tun, schließlich sei Heiligabend und so – machte auch Holger sich auf den Heimweg. Doch seinen Weihnachtsmannkollegen hatte er nicht zum letzten Mal gesehen...

(pb)

Goosen, Frank: Sechs silberne Saiten. Eine Weihnachtsgeschichte. Frankfurt am Main: Eichborn 2006.

Zitat aus: Frank Goosen: Sechs silberne Saiten; © 2015 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

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